Ein Zauberhandbuch für das Jenseits: das ägyptische Totenbuch liefert einzigartige Einblicke in das religiöse Leben Altägyptens. Ein neues Handbuch stellt den aktuellen Forschungsstand vor. Mitherausgeber ist der Würzburger Ägyptologe Martin Andreas Stadler.
Menschen, die ein gottgefälliges Leben frei von Sünden geführt haben, steht der Weg ins „Paradies“ offen. Sie können guten Gewissens das „negative Sündenbekenntnis“ nach ihrem Tod vor 42 Totenrichtern rezitieren: 42-mal negieren sie, 42 verschiedene Sünden begangen zu haben, Mord, Diebstahl, Ehebruch, kultische Unreinheit und vieles andere mehr.
Anubis, der Gott des Einbalsamierens, wiegt anschließend ihr Herz. Ist das Herz so leicht wie eine Feder auf der anderen Seite der Waagschale, darf der Tote ewig leben. Anders sieht das bei einem sündhaften Menschen aus. Ist sein Herz durch die Sünden zu schwer, kommt eine „Seelenfresserin“ und verschlingt den Sünder. Als Schatten bleibt er damit von einer Weiterexistenz ausgeschlossen.
Publikation bei Oxford University Press
So zumindest ist es im Totenbuch zu lesen – einer Sammlung ägyptischer Texte auf Papyri oder Mumienbinden, die seit dem Neuen Reich (1540 bis 1075 v. Chr.) vornehmen Verstorbenen mit ins Grab gegeben wurden. Das Totenbuch steht im Mittelpunkt eines neuen Handbuchs, das jetzt bei Oxford University Press erschienen ist. Herausgeber sind Professor Martin Andreas Stadler, Inhaber des Lehrstuhls für Ägyptologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU), und Rita Lucarelli, außerordentliche Professorin für Ägyptologie an der University of California, Berkeley.
„Unter dem breiten Spektrum der altägyptischen religiösen Literatur ist das Totenbuch das repräsentativste Werk der altägyptischen Totenreligion und der damit verbundenen magischen und rituellen Praktiken“,
erklärt Martin Andreas Stadler. Sein reichhaltiges Text- und Bildkorpus liefere einzigartige Informationen über die Praktiken der Schriftgelehrten, die Totenreligion, die Mythen und die priesterlichen Rituale im alten Ägypten vom zweiten Jahrtausend bis zum zweiten Jahrhundert v. Chr. Das Totenbuch war so selbst ein wichtiges Handbuch für die Ägypter mit magischem Wissen, das ihnen helfen sollte, den schwierigen und gefährlichen Weg ins Jenseits zu meistern.
Kein Totenbuch gleicht dem anderen
Aber: Wer sich mit dem Totenbuch beschäftigen will, sieht sich nicht nur einer umfangreichen, fast 200 Jahre zurückreichenden Forschungsliteratur gegenüber, sondern wird von der schieren Masse an erhaltenen Textzeugen förmlich erschlagen. „Kein Totenbuch gleicht dem anderen. So ist das eben in einer Handschriftüberlieferung“, sagt Stadler.
Über die knapp 2000 Jahre hat sich auch manches Verständnis verändert.
„Wir können beobachten, wie selbst die Alten Ägypter manche Wörter irgendwann nicht mehr verstanden und dann durch neue ersetzten, die dem Text vielleicht einen ganz anderen Sinn gaben, manchmal auch neue Mythentraditionen begründeten“, so Stadler.
Deshalb sei es „ungemein komplex“, sich mit dem altägyptischen Totenbuch zu beschäftigen.
Erste umfassende Orientierung im Dickicht von Geheimwissen
Hier hilft das neue Handbuch. In fünf Teilen, in denen 28 Kapitel zusammengefasst sind, stellt das neue Handbuch den aktuellen Forschungsstand rund um das Totenbuch vor. 25 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zehn Ländern erläutern darin unter anderem seine Textgeschichte, die Quellentypen, die Stellung des Totenbuchs in der altägyptischen Religion, besondere Aspekte seines Inhalts sowie die Rezeption in der Neuzeit. Das Oxford Handbook of the Egyptian Book of the Dead ist somit das erste große Handbuch, das die weitreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Totenbuch sowie die breitere Literatur über altägyptische Religion und Magie sammelt und zusammenfasst.
„Diese Sammlung von Beiträgen von Fachleuten ist sowohl für neugierige Studierende als auch für erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch aus Nachbardisziplinen nützlich“,
sind sich Martin Andreas Stadler und Rita Lucarelli sicher. Das Handbuch wird ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren zu einem wichtigen Hilfsmittel für jegliche Forschung rund um das Totenbuch werden.
Die Herausgeber
Martin Andreas Stadler wurde 2011 zum Heisenberg-Professor für altägyptische Kulturgeschichte in ptolemäisch-römischer Zeit an der Universität Würzburg ernannt. Er hat seitdem dort den Lehrstuhl für Ägyptologie inne. Er lehrte 2009/10 als Vertretungsprofessor an der Universität Tübingen und war 2015 Gastprofessor in Paris. Seine Forschungsschwerpunkte sind ägyptische Grabkunst, demotische Literatur und ägyptische Religion, einschließlich der ptolemäisch-römischen Epoche. Dabei geht er insbesondere der Frage nach, ob und wie die Ägypter ihre kulturelle Identität während der Zeit der griechischen und römischen Herrschaft bewahrt haben.
Rita Lucarelli ist außerordentliche Professorin für Ägyptologie an der University of California Berkeley und Kuratorin für Ägyptologie am Phoebe A. Hearst Museum of Anthropology in Berkeley. Sie arbeitete als Forschungsstipendiatin und Dozentin am Institut für Ägyptologie der Universität Bonn, wo sie Teil des Teams des „Totenbuchprojekts“ der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften war. Zurzeit arbeitet sie an einem Projekt zur Erstellung von 3D-Modellen altägyptischer Särge, dem „Book of the Dead in 3D“.
The Oxford Handbook of the Egyptian Book of the Dead. Edited by Rita Lucarelli and Martin Andreas Stadler. 616 Seiten | 200 Abbildungen, 5 Tabellen. ISBN: 9780190210007
Link: https://global.oup.com/academic/product/the-oxford-handbook-of-the-egyptian-book-of-the-dead-9780190210007?cc=us&lang=en&
Pressemitteilung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg – JMU, von Gunnar Bartsch.