Neue Einblicke in den Alltag frühindustrieller Arbeiterinnen

Was Handskelette über das Arbeiten im 19. Jahrhundert verraten: Forscher der Universität Tübingen und des Naturhistorischen Museums Basel kombinieren Knochenanalysen mit historischem Archiv.

Die Handskelette von Arbeiterinnen aus den Anfängen der Industrialisierung spiegeln die vielfältigen und wechselnden Aktivitäten ihres Alltags wider. In einer neuen Studie haben Dr. Alexandros Karakostis vom Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie der Universität Tübingen und Dr. Gerhard Hotz, Kurator für Anthropologie am Naturhistorischen Museum Basel, erstmals gezeigt, dass aus den Handknochen früherer Menschen viele Informationen über deren Arbeit und Alltagsleben gewonnen werden können. Die Studie wurde im American Journal of Biological Anthropology veröffentlicht.

Bei der Untersuchung von Handskeletten früherer Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem 19. Jahrhundert vom Basler Spitalfriedhof wandten die Forscher eine als „V. E. R. A.“ bezeichnete Methode an: Die Handskelette wurden in einer virtuellen 3-D-Analyse untersucht, die alltäglichen Arbeiten, die die Menschen mit ihren Händen verrichteten, rekonstruiert und die Ergebnisse mit den jeweiligen dokumentierten Lebensgeschichten verglichen.

„Dieser Ansatz beruht auf der 3-D-Untersuchung der Knochen, insbesondere der Stellen, an denen zu Lebzeiten die Muskeln ansetzten“, sagt Alexandros Karakostis, der Hauptautor der Studie, der diesen neuen Ansatz entwickelt hat.

Wechselnde Tätigkeiten

Neue Einblicke in den Alltag frühindustrieller Arbeiterinnen
Die Skelettanalyse spiegelt die Aufteilung manueller Arbeiten zwischen Frauen und Männern in der frühindustriellen Unterschicht klar wider. Die vertikale Achse teilt die lange Zeit als Bauarbeiter tätigen Männer (oben) von den Männern, die eher feinmechanische Arbeiten ausführten (unten). Die horizontale Achse zeigt, dass bei Frauen mit spezifischen Beschäftigungen, wie zum Beispiel Schneiderinnen und Näherinnen, direkte Belege einer vielfältigeren und anspruchsvolleren Handarbeit zu finden sind.Abbildung: Karakostis et al. 2022

Karakostis und Hotz nutzten für ihre Studie Funde und Daten aus dem Projekt Basel Spitalfriedhof, das über identifizierte Skelette, zugehörige Krankenakten und dokumentierte Lebensgeschichten Einblicke in die Lebensbedingungen der Basler Unterschicht im 19. Jahrhundert gestattet. Die Forscher führten ihre anthropologische Studie an den Handknochen von Arbeiterinnen aus der Unterschicht im frühindustriellen Basel durch.

„Das Alltagsleben dieser Frauen ist in einzigartiger Weise in zahlreichen Details dokumentiert“, berichtet Karakostis. Die Skelettteile und das große Archivgut, die mit jeder dieser Personen verbunden sind, seien über 15 Jahre hinweg sorgfältig untersucht und von einer großen Zahl von Freiwilligen im ‚Citizen Science Basel Project‘ unter der Leitung von Gerhard Hotz zusammengetragen worden.

„Die Ergebnisse bieten aufschlussreiche Einblicke in das tägliche Leben von Frauen und Männern der Arbeiterklasse im frühindustriellen Basel und zeigen, wie vielversprechend unsere Methoden allgemein für die Erforschung des Lebens früherer Menschen sind“, betont Karakostis.

Publikation:

Karakostis, F. A.* Hotz. G. (2022). Reflections of manual labor in the hand entheses of early industrial women workers with extensively documented life histories, American Journal of Biological Anthropology: https://doi.org/10.1002/ajpa.24636

 

Pressemitteilung von der Universität Tübingen

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