Schwer fassbare Minderheiten: Nicht-binäres Geschlecht im prähistorischen Europa
Forschungsteam analysiert Geschlechtsdaten aus Gräbern aus einem Zeitraum von fast 4000 Jahren.
Die Vorstellung ist verbreitet: In der Vergangenheit hing das biologische Geschlecht eindeutig mit der Rolle in der Gesellschaft zusammen, Männlichkeit und Weiblichkeit waren scharf voneinander abgegrenzt. Aber war die Vorstellung von Geschlecht im prähistorischen Europa wirklich binär? Mit dieser Fragestellung untersuchten Archäologinnen und Archäologen der Universität Göttingen neolithische und bronzezeitliche Gräber (etwa 5500 v. Chr. bis 1200 v. Chr.) auf Hinweise zum biologischen und sozialen Geschlecht. Sie fanden heraus, dass die gesellschaftliche Rolle prähistorischer Individuen mehrheitlich – aber nicht ausschließlich – durch ihr biologisches Geschlecht bestimmt wurde. Es zeigte sich aber auch, dass die üblichen Methoden fehleranfällig sind. Die Ergebnisse sind in der Zeitschrift Cambridge Archaeological Journal erschienen.
Viele Menschen gehen davon aus, dass die beiden biologischen Geschlechter zwei soziale Geschlechter hervorbringen. Betrachtet man jedoch das biologische und das soziale Geschlecht getrennt, gibt es mindestens vier mögliche Kombinationen. Es ist herausfordernd für Archäologinnen und Archäologen, Geschlechternormen und -identitäten in prähistorischen Gesellschaften zu untersuchen. Üblicherweise ermitteln sie das biologische Geschlecht anhand der menschlichen Knochen. Auf das soziale Geschlecht einer Person sollen Gegenstände in ihrer Grabausstattung hinweisen. Dabei gilt in sehr vereinfachter Form: Waffen für Männer, Schmuck für Frauen. Für die nun veröffentlichte Studie sammelten und analysierten die Forschenden bestehende Daten zum biologischen und sozialen Geschlecht von über 1000 Individuen, die in neolithischen und bronzezeitlichen Grabstätten in Deutschland, Österreich und Italien bestattet wurden. Der Datensatz deckt fast 4000 Jahre unserer fernen Vergangenheit ab. Die Forschenden ermittelten, wie oft die Daten zum biologischen und sozialen Geschlecht übereinstimmten und wie oft nicht.
Das biologische und soziale Geschlecht konnte nur bei etwa 30 Prozent der untersuchten Individuen bestimmt werden. 10 Prozent der Individuen entsprechen den Daten nach nicht der „binären Norm“.
„Die Zahlen sagen uns, dass wir nicht-binäre Personen historisch gesehen nicht als Ausnahmen von einer Regel betrachten können“,
erklärt Dr. Eleonore Pape. Sie hat die Forschung an der Universität Göttingen durchgeführt und arbeitet nun am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
„Wir sollten sie eher als Minderheiten begreifen, die unter Umständen formal anerkannt, geschützt und sogar verehrt werden konnten.“
Dr. Nicola Ialongo vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen fügt hinzu, dass dies nur eine der möglichen Interpretationen sei.
„Zum jetzigen Zeitpunkt können wir die tatsächliche Größenordnung noch nicht abschätzen. Das liegt nicht nur an der Fehleranfälligkeit der Methoden, zum Beispiel bei der Untersuchung der Knochen. Wir müssen auch den Bestätigungsfehler berücksichtigen: Wir Menschen neigen dazu, das zu finden, was wir finden wollen.“
Zukünftig sollen biomolekulare Analysen, zum Beispiel an der DNA und an Proteinen im Zahnschmelz, zusätzliche Daten liefern.
Originalveröffentlichung: Pape, E., Ialongo, N. Error or Minority? The Identification of Non-binary Gender in Prehistoric Burials in Central Europe. Cambridge Archaeological Journal 2023. DOI: 10.1017/S0959774323000082
Pressemitteilung der Universität Göttingen